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Mittwoch, 27. Juli 2011

Autismus – ein Spiegelungsproblem?


 Von Katja Gaschler

Wenn das postulierte Spiegelneuronensystem mit Empathiefähigkeit zu tun hat, dann müssten Menschen, die starke Probleme haben, sich in andere hineinzuversetzen, auch entsprechende neurophysiologische Funktionsstörungen erkennen lassen. Dies könnte auf psychische Erkrankungen wie Schizophrenie, Alexithymie – der mangelnden Fähigkeit, Gefühle bei sich selbst und anderen wahrzunehmen – sowie Autismus zutreffen. Bei schizophrenen Patienten beispielsweise fällt auf, dass sie sich durch ein herzhaftes Gähnen für gewöhnlich nicht anstecken lassen. Und während Kinder in der Regel das Lächeln der Mutter erwidern, bleibt das Gesicht ihrer autistischen Altersgenossen oft ernst. Auch scheinen autistische Menschen meist mehr an Dingen als an Personen interessiert. 2005 präsentierte Hugo Theoret von der Universite de Montreal autistischen Erwachsenen einen zehnsekündigen Videofilm, in dem Daumenbewegungen zu sehen waren. Während bei gesunden Personen der motorische Cortex ansprang, blieb er bei den Versuchspersonen stumm. Daraus zieht Marco Iacoboni, Direktor des Neuropsychiatrischen Instituts
an der School of Medicine in Los Angeles (UCLA), einen weit reichenden Schluss: Er glaubt, das Defizit könne für die bei autistischen Kindern häufiger beobachtete geistige Entwicklungsverzögerung verantwortlich sein. Schließlich würden die Kleinen normalerweise sehr viel per Imitation lernen. Anfang 2006 untersuchte Mirella Dapretto aus Iacobonis Arbeitsgruppe, wie autistische Teenager den Gesichtsausdruck ihres Gegenübers erkennen. Die Jugendlichen sollten 80 Gesichter studieren – fröhliche und traurige, ängstliche, ärgerliche oder auch neutrale. Im Gegensatz zu den Kontrollpersonen mangelte es den autistischen Probanden an Aktivität im prämotorischen Cortex. Dafür waren bei ihnen Areale im rechten visuellen Assoziationscortex und im linken vorderen Scheitellappen stärker aktiv. Als es aber darum ging, die Gesichter zu imitieren, schnitten die autistischen Jugendlichen nicht schlechter ab als die Vergleichsgruppe. Iacoboni hat eine simple Erklärung dafür: Während nichtautistische Personen die beobachteten Emotionen über ihr Spiegelsystem nachvollziehen und nachfühlen, hätten die autistischen Teenager eine alternative, bewusste Strategie entwickelt. »Wenn Sie jemanden mit traurigem Gesichtsausdruck sehen, dann simuliert Ihr Gehirn die neuronale Aktivität, die bei Ihnen selbst zu einem traurigen Gesicht führen würde«, beschreibt Iacoboni den Normalzustand. »Die Motoneurone kommunizieren dabei mit den Gefühlszentren, und schon fühlen Sie sich selbst ein wenig traurig.« Autistische Personen dagegen könnten über ihre alternative Strategie die emotionale Bedeutung der imitierten Mimik nicht wirklich »erfahren«. Hier allerdings überschätzt der Forscher die Aussagekraft seiner Wissenschaft. Denn auch die Hirnforschung kann das »Qualia-Problem« bislang nicht lösen – die Qualität einer inneren Erfahrung lässt sich mit wissenschaftlichen Methoden schlicht nicht erfassen. Sprich: Wie jemand als autistischer Mensch genau fühlt, kann letztlich nur er selbst wissen. Auch warum bei autistischen Kindern gerade das Spiegelsystem Schaden genommen haben soll, ist bisher unbekannt. Genetische Schäden, ein Trauma in frühster Kindheit oder gar während der Schwangerschaft? Eine gewisse Spiegelungsfähigkeit ist uns normalerweise angeboren. Der Psychologe Andrew Meltzhoff und sein Mitarbeiter M. Keith Moore von der University of Washington in Seattle hatten schon Ende der 1970er Jahre beobachtet, dass Säuglinge bereits im ersten Lebensmonat die Mimik von Erwachsenen nachahmen: Streckt man dem Baby die Zunge heraus, macht es das recht bald nach.

Katja Gaschler ist promovierte Biologin und stellvertretende Chefredakteurin bei Gehirn&Geist.



Quelle:  Der vollständige Artikel ist erschienen in 

Literaturtipps:

Anschaulich geschriebene Einführung


Meltzoff, A. N.: Imitation and Other Minds: The "Like Me" Hypothesis. In: Hurley, S, Chaters, N. (Hg.), Perspectives on Imitation: From Neuroscience to Social Science 2, 2005, S. 55-77.

Singer, T. et al.: Empathy for Pain Involves the Affective but not Sensory Components of Pain. In: Science 303(5661), 2004, S. 1157-1162.



LG, Benjamin Bräuer



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