Wenn das postulierte Spiegelneuronensystem mit Empathiefähigkeit
zu tun hat, dann müssten Menschen, die starke Probleme haben, sich in andere
hineinzuversetzen, auch entsprechende neurophysiologische Funktionsstörungen
erkennen lassen. Dies könnte auf psychische Erkrankungen wie Schizophrenie,
Alexithymie – der mangelnden Fähigkeit, Gefühle bei sich selbst und anderen
wahrzunehmen – sowie Autismus zutreffen. Bei schizophrenen Patienten
beispielsweise fällt auf, dass sie sich durch ein herzhaftes Gähnen für gewöhnlich
nicht anstecken lassen. Und während Kinder in der Regel das Lächeln der
Mutter erwidern, bleibt das Gesicht ihrer autistischen Altersgenossen oft
ernst. Auch scheinen autistische Menschen meist mehr an Dingen als an Personen
interessiert. 2005 präsentierte Hugo Theoret von der Universite de Montreal
autistischen Erwachsenen einen zehnsekündigen Videofilm, in dem
Daumenbewegungen zu sehen waren. Während bei gesunden Personen der
motorische Cortex ansprang, blieb er bei den Versuchspersonen stumm. Daraus
zieht Marco Iacoboni, Direktor des Neuropsychiatrischen Instituts
an der School of Medicine in Los Angeles (UCLA), einen
weit reichenden Schluss: Er glaubt, das Defizit könne für die bei autistischen
Kindern häufiger beobachtete geistige Entwicklungsverzögerung verantwortlich sein. Schließlich würden die Kleinen
normalerweise sehr viel per Imitation lernen. Anfang 2006 untersuchte Mirella Dapretto aus Iacobonis
Arbeitsgruppe, wie autistische Teenager den Gesichtsausdruck ihres Gegenübers
erkennen. Die Jugendlichen sollten 80 Gesichter studieren – fröhliche und
traurige, ängstliche, ärgerliche oder auch neutrale. Im Gegensatz zu den Kontrollpersonen
mangelte es den autistischen Probanden an Aktivität im prämotorischen Cortex.
Dafür waren bei ihnen Areale im rechten visuellen Assoziationscortex und im
linken vorderen Scheitellappen stärker aktiv. Als es aber darum ging, die
Gesichter zu imitieren, schnitten die autistischen Jugendlichen nicht
schlechter ab als die Vergleichsgruppe. Iacoboni hat eine simple Erklärung dafür: Während nichtautistische Personen die
beobachteten Emotionen über ihr Spiegelsystem nachvollziehen und nachfühlen, hätten
die autistischen Teenager eine alternative, bewusste Strategie entwickelt. »Wenn Sie jemanden mit
traurigem Gesichtsausdruck sehen, dann simuliert Ihr Gehirn die neuronale Aktivität,
die bei Ihnen selbst zu einem traurigen Gesicht führen würde«, beschreibt
Iacoboni den Normalzustand. »Die Motoneurone kommunizieren dabei mit den Gefühlszentren,
und schon fühlen Sie sich selbst ein wenig traurig.« Autistische Personen
dagegen könnten über ihre alternative Strategie die emotionale Bedeutung der
imitierten Mimik nicht wirklich »erfahren«. Hier allerdings überschätzt der
Forscher die Aussagekraft seiner Wissenschaft. Denn auch die Hirnforschung kann
das »Qualia-Problem« bislang nicht lösen – die Qualität einer inneren Erfahrung
lässt sich mit wissenschaftlichen Methoden schlicht nicht erfassen. Sprich: Wie
jemand als autistischer Mensch genau fühlt, kann letztlich nur er selbst
wissen. Auch warum bei autistischen Kindern gerade das Spiegelsystem Schaden
genommen haben soll, ist bisher unbekannt. Genetische Schäden, ein Trauma in frühster
Kindheit oder gar während der Schwangerschaft? Eine gewisse Spiegelungsfähigkeit
ist uns normalerweise angeboren. Der Psychologe Andrew Meltzhoff und sein
Mitarbeiter M. Keith Moore von der University of Washington in Seattle hatten
schon Ende der 1970er Jahre beobachtet, dass Säuglinge bereits im ersten
Lebensmonat die Mimik von Erwachsenen nachahmen: Streckt man dem Baby die Zunge
heraus, macht es das recht bald nach.
Katja
Gaschler ist promovierte Biologin und stellvertretende Chefredakteurin bei Gehirn&Geist.
Quelle: Der vollständige Artikel ist erschienen
in
Literaturtipps:
Bauer, J.: Warum ich fühle, was du fühlst.
Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone.
Hamburg: Hoffmann und Campe 2005.
Anschaulich geschriebene Einführung
Csriba, G.: Mirror Neurons and Action Observation.
Is Simulation Involved? Interdisciplines 2005
Meltzoff, A. N.: Imitation and Other Minds: The
"Like Me" Hypothesis. In: Hurley, S, Chaters, N. (Hg.), Perspectives on
Imitation: From Neuroscience to Social Science 2, 2005, S. 55-77.
Singer, T. et al.: Empathy for Pain Involves the
Affective but not Sensory Components of Pain. In: Science 303(5661), 2004, S.
1157-1162.
LG, Benjamin Bräuer
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen